Wie Homer uns das Tanzen beibringt
Aktualisiert am 04. Februar 2019 von Susanne Berg
Jeder der erzählend schreibt, ob journalistisch, literarisch oder dramatisch, kennt es: Die Irrfahrten des Odysseus sind bis heute als „Heldenreise“ die Grundlage des Erzählens oder des Storytelling, wie man heute sagt. Grund genug, die Ursprünge griechischer Dichtung genauer zu beleuchten. Dies tat Gerhardt Staufenbiel am Abend bei seinem Vortrag – auch tanzend – im Café Martha in Nürnberg-Mögeldorf. Eingeladen hat ihn Karin Charlotte Melde, die mit ihrem Wortgastspiel bereits zum zweiten Mal die Veranstaltung „Philosophie für Alle“ auf die Beine gestellt hat. Unter dem Namen „Musenküsse und Versfüße“ werden wir lernen, dass die Musen auch grob waren und was die Füße mit Versen zu tun haben. Und dass Füße und Verse bis heute Folgen für unsere Kultur und die anderer Länder haben.
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dann kommt man heim!“
„Man muss erst alles verlieren, dann kommt man heim!“, fasst Gerhardt Staufenbiel die Grundaussage der Irrfahrten des Odysseus zusammen. Man schreibt sie gemeinhin Homer zu. Aber da gab es auch noch den Dichter Hesiod. Dessen Epen „Werke und Tage“ und „Theogonie“ sind neben Homers Hauptwerken „Ilias“ und „Odyssee“ die Basis der deutschen Literatur, so Staufenbiel. Vor allem Hölderlin, natürlich Goethe und Schiller sowie Klopstock entwickeln ihre Dichtung auf der Basis dieser universellen Werke.
Staufenbiel hat Physik und Philosophie studiert, beschäftigt sich als Teemeister intensiv mit der Zen-Tradition und erforscht seit vielen Jahren die Ursprünge der griechischen Dichtung. Er spricht auch selbst Griechisch. So hat er beispielsweise ein Jahr lang in Kursen getestet, ob die Odyssee vielleicht Themen nordischer Dichtung enthält, wie er berichtet. Er meint: ja.
In der gemütlichen Wohnzimmeratmosphäre des Café Martha in Nürnberg-Mögeldorf mit goldenem Spiegel an roter Wand, altem Holz und Bücherregal führt Staufenbiel in japanischer Zeremoniekluft das Publikum in die griechische Landschaft Böothien. Seit der Antike wird diese Landschaft in Mittelgriechenland so genannt, weil dort Rinder weideten und „Boiotia“ auf Griechisch Rind bedeutet. Dort hat der Dichter Hesiod als Schafhirte und Ackerbauer gelebt. Was hat Hesiod nun mit Homer zu tun? „Wir wissen mit Sicherheit, dass Homer vor Hesiod gelebt hat oder umgekehrt“, witzelt Staufenbiel. Bis heute kennt man die genauen Geburtsdaten beider Dichter nicht. „Vielleicht gab es Homer gar nicht“, fährt Gerhard Staufenbiel fort.
Es könne sein, dass das Wort „Homer“ auch eine Berufsbezeichnung war für einen Dichter. So wie ein Rhapsode die Bezeichnung für einen fahrenden Sänger war. Im Wort „Rhapsode“ stecke „Flickwerk“. Ein Rhapsode setzt etwas zusammen. Und vielleicht habe auch Homer nur etwas zusammen gesetzt, was an Dichtung bereits vorher vorhanden war. Volksdichtung aus mündlicher Überlieferung nämlich. Denn die lange Zeit Homer zugeschriebenen „Ilias“ und „Odyssee“ könnten gar nicht von einem Dichter stammen, laut Staufenbiel. Denn sie seien im Stil viel zu unterschiedlich. Merkwürdig findet er Folgendes: nachdem die mykenische Kultur untergegangen war und laut Staufenbiel davon nichts mehr übrig blieb, tauchten quasi aus dem Nichts die zwei gigantischen Werke von Homer auf. Das könne nicht sein. „Es muss eine mündliche Überlieferungskultur gegeben haben“, ist Staufenbiel überzeugt.
Nun kommen die Versfüße ins Spiel. Denn Hesiod hat in über tausend Hexametern die Entstehung der griechischen Götterwelt geschildert. Ein Hexameter ist das Versmaß mit sechs (Hexa) Maßen. Oder auch sechs Versfüßen. Die Silben klingen dann lang, kurz, kurz, lang, kurz, kurz usw.. Und dann fängt Gerhardt Staufenbiel an zu tanzen und spricht die Silben dabei. „Die haben die Verse getanzt, das waren Gesänge“, schlussfolgert er. Zu einfacher Musik der Lyra. „Dichtung ist Tanz“, so Staufenbiel und fährt fort: „Musik = Sprache = Klang = Rhythmus = Tanz“. Und immer wenn ein Versmaß fertig war (einmal lang, kurz, kurz) musste der Fuß für die nächste Silbe wieder gehoben werden. Daher kommen die Bezeichnungen „Hebung“ und „Senkung“ in der lyrischen Dichtung. Diese rhythmisierte Sprache deutet für ihn auf mündliche Erzählkultur. Denn so könne sich das Gehirn die Texte besser merken, meint er. „Die haben noch richtig erzählt“, so Staufenbiel. Als man es viel später aufschrieb, wurde die Dichtung statisch und akademisch. Überall da, wo die Schriftkultur die „oral history“, also das mündliche Erzählen, abgelöst hat, ist ein Stück Alltagskultur verloren gegangen, meint er.
Hesiod war es auch, der die neun Musen geschaffen hat, die bis heute als die Schutzgöttinnen der Künste bekannt sind. Doch Staufenbiel rückt unser Bild von lieblichen Frauenfiguren zurecht. Die Musen waren eher nichtfigürliche Vorstellungen von menschlichen Empfindungen. Wesen, die „fürs Gedenken sorgen und die Wahrheit ins Bewusstsein holen“, wie es Staufenbiel formuliert. Hesiod habe seine Musen in den Gesängen auch wütend werden lassen im Sinne von: „Wenn du nicht sofort alles aufschreibst, kriegst du ‚nen Tritt!“ Deshalb sei Literatur so wichtig, sagt Staufenbiel. „Wenn wir etwas nicht erinnern, ist es, als wär‘ es nie gewesen.“ Insofern hat das Aufschreiben dann also doch seine Bedeutung.
Ein kleiner feiner Abend. Eine etwas schwungvollere Moderation wird das interessierte Publikum bei der nächsten Veranstaltung sicher honorieren. Am Samstag, 25. April, wird mit dem Poetry Slammer Lukas Fassnacht die passende Gelegenheit dazu sein.
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