Heimat der Miniaturwelten: Das frühere Fleischmann-Areal in St. Johannis
Aktualisiert am 04. Februar 2019 von Sebastian Gulden
Seit über 400 Jahren gilt Nürnberg als Hochburg der Spielwarenfertigung. Als im 19. Jahrhundert Modellschiffe und -eisenbahnen die Kinderzimmer eroberten, waren Nürnberger Produzenten ganz vorn dabei, darunter die Firma Fleischmann, deren Wurzeln in St. Johannis liegen.
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Noch gar nicht lang ist’s her, da konnte man an der westlichen Brandwand des Hauses Kirchenweg 13 die Werbebotschaft „Fleischmann – die Modellbahn der Profis“ lesen. Tatsächlich war das Areal 1927 eine der Keimzellen der Modelleisenbahn-Produktion in Nürnberg, allerdings unter dem Namen Doll & Co. Erst 1938 übernahm Fleischmann die Fabrik – wegen der „Arisierung“ zu einem Bruchteil des eigentlichen Wertes – von den jüdischen Eigentümern, die anschließend vor der Verfolgung durch die Nationalsozialisten in die USA fliehen mussten. Seit 2012 verdeckt die neue Wohnanlage „Bieling-Carré“, die sich um die gesamte Ecke Kirchenweg/Bielingstraße herumzieht, die alte Brandwand.
Die Wurzeln der Blechspielwarenfabrik Fleischmann liegen gleich um die Ecke an der Bieling- und der Rieterstraße. Dort errichtete der gelernte Graveur und Modelleur Jean Fleischmann 1887 eine Großwerkstätte, in der er das von Hand schuf, was heute 3D-Künstler und -Konstrukteure mit ihren CAD-Computerprogrammen und 3D-Druckern meistern: Vorlagen und Gussmodelle für hochwertiges Spielzeug. Seine Kunden waren die führenden Spielzeughersteller Nürnbergs, darunter Plank, Bing und Übelacker.
Durch ihre Aufträge, die den Zulieferbetrieb beständig wachsen ließen, züchteten sie sich ihre eigene Konkurrenz, denn 1898 stiegen die Fleischmanns selbst in die Spielzeugherstellung ein. Die Spezialität des Hauses waren Modellschiffe, in der Kaiserzeit mit ihrem see- und marinebegeisterten Monarchen Wilhelm II. der letzte Schrei insbesondere bei den Jungs.
Bis vor wenigen Jahren wirkte das alte Fabrikationsgebäude an der Rieterstraße, ein stämmiger Backsteinbau mit Stichbogenfenstern, Mansarddach und einem kunstvoll geschmiedeten, leicht angerosteten Gitterzaun wie aus der Zeit gefallen – ein Stück Industriezeitalter im Dornröschenschlaf. Anders als dem Komplex am Kirchenweg war dem Bau aller architektonischen und nostalgischen Qualitäten zum Trotz kein Nachleben als stilvolles Loft oder Bürogebäude vergönnt: 2011 kamen die Bagger und rissen das Gebäude samt Zaun für die Wohnanlage „Mondrian“ weg. Sie vollendete die geschlossene Mietshausbebauung, die die drei Häuser Hallerstraße 40, Bielingstraße 25 und 43 bereits um 1910 vorgezeichnet hatten.
Die Bielingstraße 25 ist ebenfalls ein Anwesen der Fleischmanns, die 1925 auch die Nachbarhäuser Nr. 21 und 23 ihre Eigen nennen durften. Im Unterschied zur Mehrzahl der Nürnberger Fabrikanten verzichtete die Familie auf eine freistehende Villa mit Gartenumgriff und investierte lieber in ein straßenbildprägendes, von Architekt Georg Heim entworfenes Mietshaus, das sie zusammen mit anderen Parteien bewohnten. Abgesehen vom gewerblich genutzten Bereich enthielten die Obergeschosse je eine großzügige Etagenwohnung, die schon immer jeweils mit einem privaten Bad und einer Toilette ausgestattet war. Und selbstverständlich hatte die Firma Fleischmann von Beginn an ihren eigenen Telefonanschluss!
Nur wenig, so scheint es, hat sich seit der Vollendung im Jahre 1911 an der Außenerscheinung des prachtvollen Eckhauses geändert. Wie für seine Entstehungszeit typisch, sind nur das Erdgeschoss, der Erker an der Straßenecke und die reich gegliederte Auslucht an der Nordfassade zur Rieterstraße aus Rotsandstein gefügt. Ansonsten bestehen die Mauern aus Ziegeln, die an der Straßenseite mit Strukturputz versehen sind. Der flächige Reliefschmuck in Mischformen von Neubarock und Jugendstil (darunter im Giebel des Erkers das verschlungene Monogramm des Bauherrn Jean Fleischmann) wurde nur punktuell eingesetzt. Dafür können die reich gegliederten Baumassen und die malerische Dachlandschaft mit ihren verschiedenartigen Giebeln und Gauben umso besser wirken. Die schöne Haustür und der Vorgartenzaun in Formen des geometrischen Jugendstils vervollständigen das Bild.
Nach dem Umzug der Firma Fleischmann nach Heilsbronn 2008 erinnern nur noch die historischen Bauten an die Wurzeln der Spielwarenindustrie in St. Johannis. Es bleibt zu hoffen, dass das so bleibt und nicht auch diese Zeugnisse Johanniser und Nürnberger Industrie- und Architekturgeschichte unter die Räder des aktuellen Baubooms geraten.
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