Heimat der Miniaturwelten: Das frühere Fleischmann-Areal in St. Johannis

Aktualisiert am 04. Februar 2019 von
Bielingstraße 25

Wohnen unter malerischen Dächern – das Haus Bielingstraße 25. Foto: © Boris Leuthold (2014, cc)

Seit über 400 Jahren gilt Nürnberg als Hochburg der Spielwarenfertigung. Als im 19. Jahrhundert Modellschiffe und -eisenbahnen die Kinderzimmer eroberten, waren Nürnberger Produzenten ganz vorn dabei, darunter die Firma Fleischmann, deren Wurzeln in St. Johannis liegen.

Noch gar nicht lang ist’s her, da konnte man an der westlichen Brandwand des Hauses Kirchenweg 13 die Werbebotschaft „Fleischmann – die Modellbahn der Profis“ lesen. Tatsächlich war das Areal 1927 eine der Keimzellen der Modelleisenbahn-Produktion in Nürnberg, allerdings unter dem Namen Doll & Co. Erst 1938 übernahm Fleischmann die Fabrik – wegen der „Arisierung“ zu einem Bruchteil des eigentlichen Wertes – von den jüdischen Eigentümern, die anschließend vor der Verfolgung durch die Nationalsozialisten in die USA fliehen mussten. Seit 2012 verdeckt die neue Wohnanlage „Bieling-Carré“, die sich um die gesamte Ecke Kirchenweg/Bielingstraße herumzieht, die alte Brandwand.

Werbung, die Eindruck machte. Seit 2012 ist die Westfassade des Hauses Kirchenweg 13 durch einen Neubau verdeckt.

Werbung, die Eindruck machte. Seit 2012 ist die Westfassade des Hauses Kirchenweg 13 durch einen Neubau verdeckt. Foto: © Boris Leuthold (2011)

Die Wurzeln der Blechspielwarenfabrik Fleischmann liegen gleich um die Ecke an der Bieling- und der Rieterstraße. Dort errichtete der gelernte Graveur und Modelleur Jean Fleischmann 1887 eine Großwerkstätte, in der er das von Hand schuf, was heute 3D-Künstler und -Konstrukteure mit ihren CAD-Computerprogrammen und 3D-Druckern meistern: Vorlagen und Gussmodelle für hochwertiges Spielzeug. Seine Kunden waren die führenden Spielzeughersteller Nürnbergs, darunter Plank, Bing und Übelacker.

Durch ihre Aufträge, die den Zulieferbetrieb beständig wachsen ließen, züchteten sie sich ihre eigene Konkurrenz, denn 1898 stiegen die Fleischmanns selbst in die Spielzeugherstellung ein. Die Spezialität des Hauses waren Modellschiffe, in der Kaiserzeit mit ihrem see- und marinebegeisterten Monarchen Wilhelm II. der letzte Schrei insbesondere bei den Jungs.

Der Ort, an dem alles begann – das Fabrikationsgebäude von _Fleischmann_ im Jahr 2009.

Der Ort, an dem alles begann – das Fabrikationsgebäude von Fleischmann im Jahr 2009. Foto: © Sebastian Gulden

Bis vor wenigen Jahren wirkte das alte Fabrikationsgebäude an der Rieterstraße, ein stämmiger Backsteinbau mit Stichbogenfenstern, Mansarddach und einem kunstvoll geschmiedeten, leicht angerosteten Gitterzaun wie aus der Zeit gefallen – ein Stück Industriezeitalter im Dornröschenschlaf. Anders als dem Komplex am Kirchenweg war dem Bau aller architektonischen und nostalgischen Qualitäten zum Trotz kein Nachleben als stilvolles Loft oder Bürogebäude vergönnt: 2011 kamen die Bagger und rissen das Gebäude samt Zaun für die Wohnanlage „Mondrian“ weg. Sie vollendete die geschlossene Mietshausbebauung, die die drei Häuser Hallerstraße 40, Bielingstraße 25 und 43 bereits um 1910 vorgezeichnet hatten.

Die Bielingstraße 25 ist ebenfalls ein Anwesen der Fleischmanns, die 1925 auch die Nachbarhäuser Nr. 21 und 23 ihre Eigen nennen durften. Im Unterschied zur Mehrzahl der Nürnberger Fabrikanten verzichtete die Familie auf eine freistehende Villa mit Gartenumgriff und investierte lieber in ein straßenbildprägendes, von Architekt Georg Heim entworfenes Mietshaus, das sie zusammen mit anderen Parteien bewohnten. Abgesehen vom gewerblich genutzten Bereich enthielten die Obergeschosse je eine großzügige Etagenwohnung, die schon immer jeweils mit einem privaten Bad und einer Toilette ausgestattet war. Und selbstverständlich hatte die Firma Fleischmann von Beginn an ihren eigenen Telefonanschluss!

Das Eckhaus Bielingstraße 25, aufgenommen 1911 und 2016.

Das Eckhaus Bielingstraße 25, aufgenommen 1911 und 2016. Fotos: © unbekannt (1911, Sammlung Sebastian Gulden) – Sebastian Gulden (2016, cc)

Nur wenig, so scheint es, hat sich seit der Vollendung im Jahre 1911 an der Außenerscheinung des prachtvollen Eckhauses geändert. Wie für seine Entstehungszeit typisch, sind nur das Erdgeschoss, der Erker an der Straßenecke und die reich gegliederte Auslucht an der Nordfassade zur Rieterstraße aus Rotsandstein gefügt. Ansonsten bestehen die Mauern aus Ziegeln, die an der Straßenseite mit Strukturputz versehen sind. Der flächige Reliefschmuck in Mischformen von Neubarock und Jugendstil (darunter im Giebel des Erkers das verschlungene Monogramm des Bauherrn Jean Fleischmann) wurde nur punktuell eingesetzt. Dafür können die reich gegliederten Baumassen und die malerische Dachlandschaft mit ihren verschiedenartigen Giebeln und Gauben umso besser wirken. Die schöne Haustür und der Vorgartenzaun in Formen des geometrischen Jugendstils vervollständigen das Bild.

Nach dem Umzug der Firma Fleischmann nach Heilsbronn 2008 erinnern nur noch die historischen Bauten an die Wurzeln der Spielwarenindustrie in St. Johannis. Es bleibt zu hoffen, dass das so bleibt und nicht auch diese Zeugnisse Johanniser und Nürnberger Industrie- und Architekturgeschichte unter die Räder des aktuellen Baubooms geraten.

Andere Vorher-Nachher-Bildfolgen von Stadtbild im Wandel

Fotogener Dauerbrenner: Die „Sutte“ des Heilig-Geist-Spitals

Wintertraum aus Schnee und Sandstein: Das Haus Spittlertorgraben 35

Noblesse aus zwei Epochen: Das Anwesen Marientorgraben 9

Blog abonnieren
'Nürnberg und so' Blogfeed abonnieren

Zusätzlich zu dem Podcast stellt 'Nürnberg und so' auch immer wieder begleitende Geschichten und Informationen aus der Metropolregion Nürnberg vor.

Blog-Artikel als RSS Feed abonnieren

Foodtrucks & Street Food
Finde mit Craftplaces Foodtrucks und Street Food

Logo Craftplaces - mobile Unternehmen wie Foodtrucks und Street Food finden

Die besten Foodtrucks und Street Food in deiner Stadt suchen, denn mobile Unternehmen sind immer und überall für dich da. Craftplaces zeigt dir wo und wann sie unterwegs sind.

Du willst nichts verpassen?
Anmeldung E-Mail Newsletter 'Nürnberg und so'

Anmeldung zum E-Mail Newsletter

Sätze für die Ewigkeit
Podcast Nürnberg und so
Es treten Menschen aller Alters- und Gewichtsklassen vor das Mikrofon.
Michael Jakob in Sendung No. 27
Ich habe Bücher über Kaffee gefressen.
Christian Ullrich in Sendung No. 26
Barrierefreiheit heißt Verbesserung für alle.
Jörg Korinek in Sendung No. 32
Letzte Podcast Sendungen
Nürnberg und so

Jörg Korinek / Podcast-Sendung No. 32

Veröffentlicht am 05.05.2015

Den geborenen Göppinger lockte ein Praktikum in die Frankenmetropole. Dem Weg zum Informatik-Studium gingen einige bundesweite Schulaufenthalte voraus, bei denen er Orientierung gewann und diverse…

zur Sendung No. 32

Roland Rosenbauer / Podcast-Sendung No. 31

Veröffentlicht am 11.02.2015

Aus Cadolzburg kommend, finanzierte er sich mit dem "Ruf der Unendlichkeit" oder der "Rache des Knochenmannes" seine Schulzeit. Trotz BWL Studium landete er schließlich beim Jugendfunk des…

zur Sendung No. 31

Aktuelle Magazin-Artikel
Nürnberg und so

Zehn Fragen an Startup Craftplaces aus Nürnberg

Veröffentlicht am 10.02.2019

Mit der Technologie des Startups Craftplaces finden Millionen Street Food Kunden Foodtrucks. Das junge Technologie-Unternehmen strebt an, das in 5 Jahren alle Foodtrucks in Europa und den USA mit…

weiterlesen

Fotogener Dauerbrenner: Die „Sutte“ des Heilig-Geist-Spitals

Veröffentlicht am 28.12.2018

In den letzten Wochen wurde sie wieder zehntausendfach geknipst: Die malerische Westfront des Heilig-Geist-Spitals. Sie ist nicht nur eines der beliebtesten Fotomotive Alt-Nürnbergs, sondern hat…

weiterlesen

Interview zum Afrika Film

Veröffentlicht am 18.12.2018

Eigentlich war das alles ja gar nicht so geplant gewesen – das mit dem so lange bleiben, das mit dem Alleinsein und dem Weg zu sich selbst. Doch die Frage ist, ob man in diesem Leben so etwas…

weiterlesen

Wintertraum aus Schnee und Sandstein: Das Haus Spittlertorgraben 35

Veröffentlicht am 14.12.2018

Bis zum Zweiten Weltkrieg waren prächtige Vorstadthäuser mit Sandsteinfassaden und Vorgärten in Nürnberg ein vertrauter Anblick. Sie vermittelten weltstädtisches Flair, städtebauliche…

weiterlesen