Im Auge des Sturms: Der Sandreuther Hof
Aktualisiert am 04. Februar 2019 von Sebastian Gulden
Selbst für Alteingesessene ist das vom Verkehr umtoste Sandreuth im Nürnberger Süden ein weißer Fleck auf der inneren Landkarte. Doch auch hier gibt es interessante Zeugnisse der Baukunst zu entdecken.
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Die meisten Nürnbergerinnen und Nürnberger verbinden mit Sandreuth vor allem eines: den gewaltigen Koloss des Heizkraftwerkes, das jedem bei der Vorbeifahrt auf dem Frankenschnellweg ins Auge springt. Viele kennen einen oder mehrere der zahllosen Handwerks- und Gewerbebetriebe, die sich im Süden des Stadtteils angesiedelt haben. Die Mehrheit aber verweilt nicht lange in dem von Bahnlinie und mehrspurigen Hauptverkehrsstraßen umzingelten „Auge des Sturms“.
Doch Sandreuth ist mehr als nur Industriegebiet: An der Sandreuthstraße, die den Kern des 1248 erstmals erwähnten Weilers bildet, stehen noch ein paar bauliche Zeugen aus früherer Zeit. Das Haus mit der Nummer 36 entstand um die Zeit, als Sandreuth zusammen mit dem östlich benachbarten Gibitzenhof in die prosperierende Großstadt Nürnberg eingemeindet wurde. Das war 1899. Der Bau des neuen städtischen Gaswerks in den Jahren 1900 bis 1904 machte das bis dahin dörfliche Sandreuth als Neubaugebiet interessant.
Das Haus Sandreuthstraße 36 war ein Investitionsprojekt des Privatiers Johann Maier aus der nahen Dianastraße. Der hatte das Glück, dass sein Sohn Nicolaus das Maurerhandwerk erlernt hatte und Planung und Bauausführung für seinen Papa übernahm – wir dürfen mutmaßen zu einem einmaligen Freundschaftspreis. 1903 begannen die Bauarbeiten, kamen aber bald nach dem Aushub der Baugrube zum Stillstand, weil Grundwasser durch die Schachtwände eindrang. Nach längerer Kappelei darüber, wer die Verantwortung für die nicht ordnungsgemäß durchgeführte Drainage trug, konnte der Neubau 1904 dann doch noch unter Dach und Fach gebracht werden. Im Erdgeschoss eröffnete Wirt Franz Erhard seine Gaststätte „Sandreuther Hof“, die er später in „Erhardsgarten“ umbenannte.
Der „Sandreuther Hof“ war eine gutbürgerliche Speisegaststätte, die sich durch ihre großzügigen Räume von den „Boazn“, wie man sie in vielen Vorstadtstraßen fand, unterschied. Auch der Rest des Hauses war für die Verhältnisse der kleinen Vorstadtsiedlung recht luxuriös: Die Wohnungen in den Obergeschossen besaßen schon private Toiletten. Und auch architektonisch unterscheidet sich das Gebäude wohltuend von den oft etwas eintönigen Lösungen seiner Zeit. Nicolaus Maier setzte nicht einfach einen monolithischen Klotz an die Straßenecke, sondern ließ den westlichen Hausteil etwas hinter die Baulinie zurückspringen, den östlichen Teil mauerte er als Auslucht bis in die Dachzone hoch. Durch die Staffelung der Baumassen gelang es ihm, die Straßenecke reizvoll zu beleben und dem Haus eine einprägsame, malerische Gesamtform zu geben. Außerdem blieb so vor dem Eingang zur Gaststätte Platz für einen kleinen Biergarten.
Zunächst hatte Maurermeister Maier geplant, sich dem Stil des östlichen Nachbargebäudes anzupassen und das Haus seines Vaters in den Formen des späten Klassizismus zu halten. Schließlich entschied er sich aber für eine Mischung aus Formen der deutschen Renaissance und des Barock mit malerischen Giebeln und Fenstereinfassungen mit vorkragenden Sohlbänken und dezentem Reliefschmuck aus Blattwerk und Kartuschen.
Wohl infolge von Bombeneinschlägen auf den Nachbargrundstücken hat das Gasthaus seine Balustraden auf dem vorkragenden östlichen Bauteil und seine Giebelgauben verloren. Auch den Volutengiebel zur Maybachstraße, der an Bauernhäuser des Nürnberger Umlandes aus dem 18. Jahrhundert erinnerte, hat man nachmals leicht vereinfacht und seine Silhouette begradigt. Die Tradition der Gaststätte im Erdgeschoss aber besteht bis heute fort.
Postskriptum
Die Karte, auf der neben dem Sandreuther Hof noch andere Wahrzeichen des Stadtteils (unter anderem das Gaswerk) abgebildet sind, machte von der Sandreuthstraße 36 eine weite Reise um die Welt: Pauline Keidel und ihre Ehemann Adam sandten sie an ihren Freund Joseph Holzapfel, der sich auf einer Reise durch die Vereinigten Staaten befand. Da sie seine augenblickliche Adresse nicht kannten, schickten sie ihre Karte kurzerhand an das Konsulat des Deutschen Reiches in San Francisco, das sie an Holzapfels neue Postlageradresse in Denver, Colorado, weitersandte. Was für ein Service!
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