Das große „J“ an der Ecke: Die Weiß’schen Wohnhäuser in St. Jobst
Aktualisiert am 28. Mai 2018 von Sebastian Gulden
In den 1930er Jahren war der Nürnberger Stadtteil St. Jobst ein locker bebauter Vorort. Die Verstädterung verdrängte das Grün, brachte aber interessante Architektur hervor, etwa die Wohnhausgruppe an der Ecke Bismarck- und Äußere Sulzbacher Straße.
Wie hingestellt und nicht abgeholt steht das Reihenhaus Bismarckstraße 175 auf unserer historischen Aufnahme am Wiesenhang nahe der Einmündung in die Äußere Sulzbacher Straße. Die starken Kontraste der Frühlingssonne und die feinen Abstufungen der gestochen scharfen Schwarzweißfotografie verleihen dem Bild eine idyllische, aber auch irgendwie entrückte Stimmung, bei der man an ferne Kindheitserinnerungen und Omas Apfelkuchen denken möchte.
Entstanden ist das Bild im Jahre 1930 – da war das moderne Mehrfamilienhaus gerade fertig und die Gegend rundum erst mit wenigen, verstreuten Wohnhäusern bebaut. In der Ferne ragt links die Villa des Bankiers Moritz Harbauer (Gartensteig 1) mit ihrem weitläufigen, von einem Pfeilerzaun umgürteten Gartengrundstück auf. Obwohl im Inneren kaum weniger funktional aufgebaut, wirkt die Wohnanlage an der Steuerwald-Landmann-Straße rechts mit ihren neobarocken Walmdächern, Fensterläden, Zwerchhäusern und Giebeln wie das glatte Gegenteil des Neubaus an der Bismarckstraße. Planer der schnuckeligen Wohnanlage – sie ist noch heute weitgehend so erhalten – war 1912 Architekt Ludwig Ruff, die Ausführung übernahm die Nürnberger Baufirma Haus und Garten.
Der Entwurf des Architekten Otto Heinrich Weiß für die Bismarckstraße 175 ist dagegen mit seinen klaren, stereometrischen Formen und geraden Linien, die sich in fast allen Einzelheiten zeigen, Zeugnis einer anderen Schule der Architektur, nämlich des Neuen Bauens. Unter dem linksliberalen Oberbürgermeister Hermann Luppe kam sie in Nürnberg zur Blüte, auch wenn das Stadtoberhaupt selbst mit der neuen Bauart wenig anzufangen wusste und sich 1930 dadurch hervortat, dass er mit allen Mitteln (und erfolgreich) zu verhindern suchte, dass eine Gruppe neuer Wohnhäuser am Rechenberg mit modernen Flachdächern versehen wurden.
Nach 88 Jahren und zwei Weltkriegen haben sie die Verhältnisse an diesem Teil der Bismarckstraße umgekehrt. Heute gibt es hier mehr Gebäude als Grün. Die Nr. 175 bekam schon wenige Jahre nach der Aufnahme des Fotos Gesellschaft in Form von vier gleichartigen Reihenhäusern desselben Architekten. Zusammen bilden sie heute eine geschlossene Baugruppe, deren Grundriss an ein spiegelverkehrtes großes „J“ erinnert. Bei den Ergänzungsbauten wiederholte Weiß seinen Entwurf für die Bismarckstraße 175 mit kleinen Anpassungen. Die Häuser haben ihr ursprüngliches Aussehen unterschiedlich gut bewahrt. Die Nr. 175 etwa besitzt noch die alte Haustür mit schmiedeeisernem Gitter, den niedrigen Vorgartenzaun und über dem obersten Treppenhausfenster eine Konsole, über der sich einst ein Fahnenmast erhob.
Den Treppenhausschacht des Reihenendhauses Äußere Sulzbacher Straße 119 versah ein unbekannter Künstler 1938 mit einem monumentalen Wandbild: Die verspielten Schmuckrahmen um die Fenster, die entfernt an altbairische „Lüftlmalerei“ erinnern, flankieren – brav nach Geschlechtern getrennt – zwei Personengruppen: Links stehen die Frauen und Mädchen, von der Oma bis zum Kleinkind. Rechts befinden sich die gekleideten Männer, allesamt in Arbeitskleidung, mit Bauplan, Zirkel und Zunftwappen der Steinmetze (Knüpfel und Ring). Darunter steht auf einem Spruchband die Weisheit „Sich regen / bringt Segen“. Offenbar war dieses Bild als Erinnerung an Architekt Otto Heinrich Weiß und seine Familie gedacht, denn unter dem Okulus an der Dachtraufe, der in pathetischer Manier Sonnenstrahlen aussendet, befinden sich zwei einander zugewandte, steigende Einhörner. Das Einhorn brachte Weiß häufig an seinen Bauten als Familienwappen an – so auch auf einer kleinen Tafel links neben der Eingangstür der Äußeren Sulzbacher Straße 119 und auf einem großen Wappenschild am Treppenhausrisalit der Bismarckstraße 171.
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