Industriebau mit Pfiff: Die alte Schuhfabrik in der Eschenstraße
Aktualisiert am 15. Mai 2017 von Boris Leuthold und Sebastian Gulden und Stefan Schwach
Auch Fabrikgebäude können schön sein. Als vor rund 100 Jahren die Schuhfabrik an der Kreuzung Eschen- und Ulmenstraße in Gibitzenhof entstand, war sie Arbeitsplatz und baulicher Identifikationspunkt des Stadtteiles zugleich.
Wie hingestellt und nicht abgeholt standen das Fabrikgebäude und die drei Mietshäuser einst an der Kreuzung Eschen- und Ulmenstraße in Gibitzenhof. Unsere historische Aufnahme aus der Zeit kurz vor dem Ersten Weltkrieg zeigt eine Situation, wie sie typisch für die äußeren Ränder der Vorstädte war: In der Erwartung, dass das rasante Wachstum der vorangegangenen Jahrzehnte im selben Tempo weiterginge, entstanden auf der grünen Wiese Industriebetriebe und Mietshauszeilen. Freistehende Brandwände künden hie und da noch heute davon, dass man die Häuserzeilen später erweitern wollte. Der Krieg und seine Begleiterscheinungen – Mangel an Baumaterial und Arbeitskräften und die allgemeine wirtschaftliche Not – vereitelten den Ausbau, zumindest für die nächsten zehn bis zwanzig Jahre. Auf der heutigen Aufnahme sieht man, dass dieser Zustand bis in unsere Tage anhält. Ob des derzeitigen Baubooms ist es indessen möglich, dass die Baulücken bald aufgefüllt werden.
Nicht nur die hübschen Mietshäuser haben die Zeiten überdauert; auch die Fabrik steht noch heute – wenngleich ohne den mittlerweile abgebrochenen Schornstein und mit Veränderungen an Fassaden und Dach – wie einst da. Leider sind gerade die dekorativen Teile, etwa die Gesimse und die seitlichen Giebel verlorengegangen. Sie legten Zeugnis davon ab, dass Fabriken einst nicht als reine Funktionsbauten gedacht waren, sondern ihre städtebauliche Umgebung bewusst mitgestalteten.
Bequeme Filzlatschen und behaglich-warme Hausschuhe waren die Verkaufsschlager der Firma Berneis & Wessels, die das Fabrikgebäude um 1915 erbauen ließ. Der Bildvergleich zeigt, dass die Fassaden der Mietshäuser neben der Fabrik nie besonders reich geschmückt waren. Ein „Entstucken“ der Bauzier, wie sie so viele Nürnberger Häuser von den 1920er bis in die 1970er Jahre ereilte, gab es hier nie. Die Bauten werden in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg entstanden sein, als Bauherrn und Architekten des überreichen Bauschmuckes vergangener Jahrzehnte mehr und mehr überdrüssig wurden. Kontrast durch Materialwechsel, malerische Dachlandschaften und punktueller, dafür umso wirkungsvoller Dekor galten als neues Ideal. Und günstiger war das ganze auch, besonders bei einfachen Arbeiterwohnhäusern wie hier. In dem hübschen Eckhaus mit dem ungewöhnlichen Eckturm mit Glockenhaube (Eschenstraße 20) befand sich übrigens die Gastwirtschaft „Fränkische Schuhfabrik“. Nicht mal nach Feierabend kamen die Arbeiter ihrem Brötchengeber aus!
Nach dem Ersten Weltkrieg war es dann mit der Schuhfabrikation vorbei. Die beiden Fabrikanten Justin Neu und Julius Neuburger übernahmen das Areal. Zur Blütezeit produzierten in den Enn-Werken rund 1.500 Arbeiterinnen und Arbeiter Taschenlampen, Klingeltransformatoren, Dynamos und die ebenso bekannten wie beliebten Fahrradscheinwerfer vom Typ „Ennwell“, die bis in den Fernen Osten exportiert wurden. Die Nationalsozialisten setzten dem blühenden Unternehmen 1938 ein jähes Ende, als sie die jüdischen Gesellschafter dazu zwangen, die Firma zu einem Spottpreis an einen regimetreuen Nutznießer zu verkaufen, der die Enn-Werke binnen kürzester Zeit an den Rand des Bankrottes trieb.
Als die rechtmäßigen Eigentümer die Fabrik nach dem Zweiten Weltkrieg zurückerhielten, war sie in großen Teilen durch Bombentreffer zerstört – es blieb nur der Verkauf. In der Folgezeit nutzten der Kundendienst des Versandhauses Quelle und die Noris Bank das vereinfacht wiederaufgebaute Hauptgebäude; die Front zur Eschenstraße bekam in den letzten Jahren einen mit Glas verkleideten, gewölbten Risalit verpasst. Heute sind in der alten Schuhfabrik verschiedene Handwerksbetriebe beheimatet. So hat der historische Industriebau auch ohne Denkmalschutz eine Zukunft und hält die Erinnerung an das Gibitzenhof der Industrialisierung im Stadtbild wach.
Andere Vorher-Nachher-Bildfolgen von Stadtbild im Wandel
Fotogener Dauerbrenner: Die „Sutte“ des Heilig-Geist-Spitals
Wintertraum aus Schnee und Sandstein: Das Haus Spittlertorgraben 35