Weltstädtische Fassade: Das Jugendstilhaus Humboldtstraße 111

Aktualisiert am 11. Juni 2018 von
Humboldtstraße 111

Schick der 1910er und der 1920er Jahre vereint: Eine Bewohnerfamilie mit modischem Outfit und Kinderwagen vor dem Jugendstil-Prachtbau Humboldtstraße 111. Foto: © unbekannt (Sammlung Sebastian Gulden, cc)

An der Humboldtstraße, einer der edelsten Straßenzüge der Nürnberger Südstadt, entstand vor rund einem Jahrhundert weltstädtische Baukunst. Das Haus mit der Nr. 111 bietet Jugendstil vom Feinsten, damals wie heute.

Vollsandsteinfassade zu vier Vollgeschossen mit Mittelrisalit, vornehmer Jugendstilschmuck, zwei Loggien mit Säulen und Kunstschmiedegeländern und als Abschluss ein weithin sichtbarer Schweifgiebel – kurzum: ein Prunkbau, das so auch in Berlin, München, Wien oder Prag stehen könnte. Tatsächlich erhebt sich das Mietshaus mit der eindrucksvollen Front im späten Jugendstil, das wir heute zeigen, im Nürnberger Stadtteil Lichtenhof, genauer gesagt an einer der prachtvollsten Meilen der Südstadt: der Humboldtstraße. Für das dauerbescheidene mittelfränkische Gemüt ist die Prunkfassade Balsam für die Seele, zeigt sie doch, dass man es in Nürnberg vor über einem Jahrhundert (das Haus war 1912 vollendet) durchaus verstand, weltstädtisch zu planen und zu bauen.

Schöpfer der Humboldtstraße 111 war der Architekt Peter Scherpf, der 1907 ein Gewerbe als Bauunternehmer anmeldete. Leider wissen wir ansonsten fast nichts von ihm, auch nicht, welche anderen Bauten er in Nürnberg hinterlassen hat. Selbst das Wissen über seine Autorenschaft in der Humboldtstraße verdanken wir nur den Forschungen des Nürnberger Historikers Knud Willenberg, der 1988 in akribischer Detailarbeit die Architekten der Jugendstilhäuser in Nürnberg identifizierte.

Um 1925 ist das britische Unternehmen Alfred James Holladay & Co., Ltd., als Eigentümerin des Hauses im Adressbuch verzeichnet. Die Firma gehörte damals zu den weltweit führenden Herstellern von Flugzeug-Fertigmodellen und -Bausätzen („The Most Modern of All Hobbies“). Wer das nötige Kleingeld besaß, konnte sich mit Holladays „Skybird“-Serie im heimischen Wohnzimmer einen eigenen Militärflughafen inklusive Figuren, Hangar und Tower aufbauen. Doch wie kam das Londoner Unternehmen in den Besitz der Humboldtstraße 111? Die Verbindung liegt möglicherweise in der Tatsache, dass Holladay neben eigenen auch Produkte der seinerzeit weltberühmten Nürnberger Spielwarenindustrie vermarktete. Zwei Exporthandlungen für Spielwaren – die Firmen Mechtold & Co. und Carl F. Eckhardt – hatten ihre Niederlassungen auf dem Grundstück.

Das Haus Humboldtstraße 111, aufgenommen um 1925 und 2018

Das Haus Humboldtstraße 111, aufgenommen um 1925 und 2018. Fotos: © unbekannt (um 1925, Sammlung Sebastian Gulden) – Boris Leuthold (2018, cc)

Der großzügige Vorgarten, der noch heute seinen edlen Pfeilerzaun in Jugendstilformen besitzt, lässt nicht ahnen, dass das Grundstück äußerst dicht bebaut ist. Neben dem Vorderhaus, auf dessen Stockwerken sich zwischen zwei und drei Wohneinheiten befinden, baute Scherpf an der nördlichen Grundstücksgrenze ein viergeschossiges Rückgebäude.

Die Mieterklientel war bunt gemischt und bildete nahezu alle Gesellschaftsschichten der damaligen Zeit ab: Neben dem Oberlehrer Dr. Heinrich König, der Arztwitwe Marie Dieckmann und dem Bauunternehmer Karl Haberecker lebten der Berufsmusiker Julius Seeling, der Hausierer Adolf Völker und der Straßenbahnschaffner Christian Greim mit ihren Familien in der Wohnanlage. Im vierten Obergeschoss betrieb der gelernte Holzschneider Heinrich Jantzon seit 1920 eine Clichée-Anstalt, in der er verschiedenste Druckerzeugnisse herstellte. Möglicherweise wurde auch unsere historische Ansichtskarte in seinen Räumen produziert. Wohl ebenfalls zu den Bewohnern zählt die Familie vor dem Eingang: die Dame topmodisch im Mantel mit Pelzkragen und Cloche-Hut, der Herr im Stresemann und mit Fedora und das Baby im modernen, gut gefederten Kinderwagen.

Bis heute hat sich an dem Prachtbau rein äußerlich wenig verändert, sieht man einmal von den neuen ungeteilten Fenstern ab, die dem Betrachter sehr drastisch vor Augen führen, dass Fensterteilungen für die Wirkung einer Häuserfront durchaus von Bedeutung sind. Selbst die mit reichem Schnitzwerk versehene Haustür und die geschwungenen Geländer der Loggien sind noch an ihrem Platz.

Den Fahnenhalter mit Stange über dem Eingang allerdings hat man irgendwann demontiert: Nach 1945 hatte das „Beflaggen“, das schon zur Kaiserzeit üblich gewesen war, seine Unschuld endgültig verloren. Die Bewohnerinnen und Bewohner werden also, so sie denn überhaupt wollen, zur diesjährigen Fußball-Weltmeisterschaft die Flaggen und Fahnen ihrer Lieblingsmannschaft ganz und gar unschick am Balkongeländer festbinden oder in die Fensterrahmen einzwicken müssen.

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