Einkaufserlebnis im Gewand des Jugendstils: Das Haus Kaiserstraße 15
Aktualisiert am 16. November 2018 von Sebastian Gulden
Schon Ende des 19. Jahrhunderts entwickelte sich die Nürnberger Kaiserstraße zu einer gehobenen Einkaufsmeile. Ihre alten Bürgerhäuser entsprachen diesem Anspruch nicht mehr. Viele wurden durch Neubauten ersetzt – auch das Anwesen Nr. 15.
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Nürnberg oder doch Wien? Bei der gediegenen Jugendstil-Pracht und der filigranen Schaufensterfront ist man dazu verleitet, unsere historische Fotografie eher an der Donau zu verorten als an der Pegnitz. Dass vielen dieses noble, weltstädtische Nürnberg heute so fremd erscheint? Zum einen liegt das natürlich an den Zerstörungen des Zweiten Weltkrieges, der fast die gesamte Altstadt und mit ihr die edlen Geschäftshäuser der Jahrhundertwende zum Opfer fielen. Zum anderen leisteten aber schon die Nationalsozialisten einem biederen Stadtbild Vorschub, indem sie moderne Fassaden planmäßig „entschandeln“, das heißt: pseudomittelalterlich umbauen ließen. Die „Stadt der Reichsparteitage“ wollten Oberbürgermeister Willy Liebel und seine Anhänger um jeden Preis ins – im wahrsten Sinne des Wortes – rechte Licht rücken. Der anarchische, lebensfrohe Jugendstil hatte da keinen Platz.
Das Haus Kaiserstraße 15 hatte 1908, als unser historisches Bild entstand, bereits eine lange Geschichte hinter sich. Bei seiner ersten bekannten Erwähnung im Jahre 1397 bewohnte es ein gewisser Konrad Kiengrab. Da dieser von Beruf Weinschenk war, ist es wahrscheinlich, dass er in seinem Anwesen eine Gastwirtschaft betrieb. 1510 taucht das Haus dann unter dem vielsagenden Namen „Zum Rebstock“ in den Quellen auf.
In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts war das Anwesen mit seinem Treppenturm und den offenen Galerien im Innenhof noch ein typisches Alt-Nürnberger Haus mit einer in Jahrhunderten gewachsenen, malerischen Bausubstanz. Allein, diese malerischen Qualitäten passten nicht mehr zum gewandelten Image der Kaiserstraße, die sich gerade zu einer Einkaufsmeile für das zahlungskräftige Klientel mauserte.
1887 kaufte der Weißwarenhändler Sigmund Levinger (1852–1914), der einer jüdischen Familie aus Wannbach im heutigen Landkreis Forchheim entstammte, das Haus. Anfangs versucht er noch, das alte Gemäuer durch maßvolle Umbauten seiner neuen Funktion als Geschäftslokal für die familieneigene Wäsche- und Bettenhandlung anzupassen. Am Ende aber entschied er sich für einen radikalen Schnitt: Nach dem kompletten Abbruch des alten Stadthofes errichtete Architekt Paul Bittorf 1907–1908 an seiner Stelle ein imposantes, modernes Geschäftshaus im Spätjugendstil.
Levingers Ladengeschäft mit seinen großen Schaufenstern nahm das Erd- und das erste Obergeschoss ein. Auf der zweiten Etage befanden sich Lager- und Büroräume und im dritten und vierten Stock erstreckte sich eine herrschaftliche Maisonette-Wohnung, deren Zimmer um einen Lichthof mit Glasdach angeordnet waren – eine kleine, aber höchst reizvolle Erinnerung an den mittelalterlichen Vorgängerbau.
Hinter der gediegenen Fassade mit ornamentalem und floralen Bauschmuck und einem mit schwarzen Marmorplatten verkleideten Sockel verbarg sich modernste Ingenieurskunst: Das Haus besaß nämlich ein freitragendes Innenskelett aus Eisenbeton, das die Nürnberger Eisenbeton-Baugesellschaft nach Bittorfs Zeichnungen erstellt hatte.
Die Eisenbeton-Baugesellschaft leistete echte Wertarbeit: Zwar wurde die Kaiserstraße 15 im Zweiten Weltkrieg fast völlig zerstört. Das solide Eisenbetongerüst des Erdgeschosses und des ersten Stocks aber stand noch 1965 aufrecht. Zu diesem Zeitpunkt glich das Grundstück einer endzeitlichen Ödnis. Der hölzerne Bratwurststand mit seinem biederen Zeltdach und der rot-weiß gestreiften Markise, den unser kleines Bild zeigt, ließen die trostlose Szenerie noch bizarrer erscheinen.
1976 ließ der Karstadt-Konzern die Ruine schließlich abbrechen. Den blockhaften Neubau mit Fassadenverkleidung aus Travertinplatten und von dunklem brünierten Kupferblech gerahmten Fensterbändern entwarf das Nürnberger Büro Kappler & Nützel. Im Zuge der Maßnahme wurde das Stangengäßchen großteils überbaut und in die Passage des U-Bahnhofes Lorenzkirche einbezogen. Beim Abbruch der erhaltenen Eisenbetonstrukturen wartete eine böse Überraschung auf den Bauherrn: Die Konstruktion stützten nämlich die Rückfronten der Häuser Adlerstraße 14 und 16 ab und musste vor Neubaubeginn mit einem irrsinnigen Aufwand behutsam abgetragen werden, um die Standfestigkeit der Nachbarhäuser nicht zu gefährden.
Das Leinenhaus Sigmund Levinger & Co. existiert heute nicht mehr: 1938 wurden das geschätzte Unternehmen und seine Inhaber Opfer der „Arisierungspolitik“ der Nationalsozialisten. Für einen Spottpreis mussten Joseph, Heinrich und Ludwig Levinger ihr Unternehmen an die Konkurrenten Max Gantikow und Grete Thoma abtreten, die allerdings nach dem Zweiten Weltkrieg für ihre Bereicherung zur Rechenschaft gezogen wurden. Den rechtmäßigen Inhabern gelang es immerhin, sich rechtzeitig vor der Verfolgung in Sicherheit zu bringen.
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