Land unter: Als die Kleinweidenmühle im Wasser stand
Aktualisiert am 06. Februar 2017 von Sebastian Gulden
Heute würde wohl niemandem mehr einfallen, eine Ansichtskarte an seine Lieben zu schicken, auf der eine Naturkatastrophe zu sehen ist. Um 1900 war man da noch etwas sorgloser. Allein das Pegnitzhochwasser vom Februar 1909 wurde x-mal fotografiert.
Der 4. Februar 1909 begann in Nürnberg und seinem Umland mit einer Winterlandschaft, wie sie im Buche steht. In kurzer Zeit fielen 40 Zentimeter Neuschnee. Des „Reiches Schatzkästlein“ präsentierte sich – zumindest für jene, die ein warmes Zuhause hatten – als weißes Idyll. Doch dann, in der Nacht vom 4. auf den 5. Februar 1909, kam die Katastrophe: Ein rascher Temperaturanstieg brachte die Schneemassen in kürzester Zeit zum Schmelzen. Da die Böden jedoch nach wochenlangem Dauerfrost durchgefroren waren, konnten sie das Schmelzwasser nicht aufnehmen, das sich nun anderswo seinen Weg bahnte. Das Bett der Pegnitz konnte die Fluten bald nicht mehr fassen, und Millionen Liter Wasser ergossen sich in die flussnahen Stadtviertel Nürnbergs.
Straßen und Trambahngeleise wurden unterspült und verformt, Bäume entwurzelt. Besonders schwer erwischte es die tieferen Lagen der Sebalder Altstadt. Hier stand die braune Brühe teilweise meterhoch in den Straßen. Die Pegelstange am Hauptmarkt zeigte zeitweise 2,55 Meter Wasserstand vom Trottoir ab – ein trauriger Rekord. Über 100 vom Wasser eingeschlossene Menschen musste die Feuerwehr in Sicherheit bringen.
Das hielt die Nürnberger Ansichtskartenverlage nicht davon ab, sofort ihre Fotografen auszusenden. Jeder wollte die besten Fotos von der Jahrhundertkatastrophe schießen. Bei der Nachbearbeitung sparten sie nicht mit dramatischen Wellenformationen, die sie unverblümt in ihre Bilder hineinretuschierten. Der Verlag Zerreiss & Co. widmete der Hochwasserkatastrophe sogar einen ganze Bildband mit den besten Schnappschüssen auf Kunstdruckpapier. Und ob man es glaubt oder nicht: Für solche Katastrophenbilder gab es durchaus einen Markt, ebenso wie für die Karten mit grauenhaften Bildern völlig zerstörter Städte, die Soldaten im Ersten Weltkrieg von der Front nach Hause schickten.
Gleichwohl muss man sich vergegenwärtigen, dass solche Katastrophenbilder nicht nur (aber auch) dazu gedacht waren, eine makabre Schaulust zu befriedigen. In einer Zeit, da die Fotografie noch jung war, es kein Fernsehen gab und die Tageszeitungen meist unbebildert waren, waren solche Karten eine der wenigen Mittel, um dem, der nicht „live“ dabei war, das Grauen der Situation bildlich vor Augen zu führen.
An der Kleinweidenmühle wütete die Flut von 1909 besonders heftig. Unsere historischen Bilder zeigen, mit welch unheimlicher Kraft das geschah: Vom Anwesen Nr. 4, einem spätklassizistischen Wohnhaus aus massiven Sandsteinquadern, wurde sogar ein Teil des Erdgeschosses weggerissen, der gusseiserne Balkonvorbau von den Wassermassen abgeknickt, als bestünde er aus Streichhölzern. Es grenzt an ein Wunder, dass die historische Kleinweidenmühle nicht auch vernichtet wurde.
108 Jahre später hat man den Hochwasserschutz Nürnbergs massiv verbessert, auch deswegen, weil die städtische Bebauung nach 1909 noch viele weitere frühere Überschwemmungsflächen beansprucht hat. Beim Wiederaufbau nach dem Zweiten Weltkrieg investierte die Stadt Millionen in den hochwassersicheren Ausbau der Pegnitz. Die Bebauung an der Kleinweidenmühle hat ihr Antlitz verändert: Während das Mühlengebäude selbst als Zeugnis reichsstädtischer Bau- und Ingenieurskunst bestehen blieb, wurden die Häuser am rechten Bildrand durch die Neubauten des Wohnstiftes Hallerwiese ersetzt. Das 1895 errichtete Eckhaus mit Erker im Stil der Neorenaissance links und sein Nachbargebäude, ein mächtiges Mietshaus mit Gaststätte im Nürnberger Stil, sind ebenfalls erhalten geblieben.
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