Verschwundenes Wahrzeichen: Das Schulhaus an der Nunnenbeckstraße
Veröffentlicht am 04. September 2018 von Sebastian Gulden
Südlich des Nürnberger Melanchthon-Gymnasiums stand bis 1951 ein weiterer Großbau im Geiste des späten Jugendstils: die Städtische Handelsschule für Mädchen. Nur alte Fotografien erinnern heute an dieses Wahrzeichen der Gärten bei Wöhrd.
Wöhrd und seine Gärten waren die ersten Stadtteile Nürnbergs, die die Bomben des Zweiten Weltkrieges zu großen Teilen in Schutt und Asche legten. Viele Menschen wurden von dem Angriff, der kurz vor 1 Uhr am 11. August 1943 begann, im Schlaf überrascht, 585 von ihnen verloren ihr Leben. Bei Tagesanbruch glichen Wöhrd und seine Umgebung einer rauchenden Mondlandschaft.
Viele Bewohnerinnen und Bewohner verloren in dieser Nacht nicht nur Familienmitglieder, Nachbarn und Freunde, sondern auch ihr Zuhause. Unter den schwer beschädigten Gebäuden war auch die Städtische Handelsschule für Mädchen in der Nunnenbeckstraße 40. Ein weiterer Luftangriff am 31. März 1944 versetzte dem gebeutelten Prachtbau den Todesstoß. Mit der Sprengung der ausgebrannten Ruine ging 1951 eines der Meisterwerke der Jugendstil-Architektur in Nürnberg endgültig zu Grunde.
Die Vorgeschichte des Gebäudes begann um das Jahr 1910: Da stieß die Städtische Handelsschule für Mädchen am Lorenzer Platz, die von den Schülerinnen aus den Stadtvierteln nördlich der Pegnitz besucht wurde, an ihre Kapazitätsgrenze. Ein neues Schulhaus musste her: Es entstand 1912 auf einem freien Grundstück unmittelbar südlich des heutigen Melanchthon-Gymnasiums, das erst drei Jahre zuvor fertiggestellt worden war. Schon 1913 konnten die ersten Klassen das neue Schulhaus beziehen.
Die Entwürfe fertigte Oberingenieur Georg Kuch (1862-1928), der Nürnberg in den Jahrzehnten seines Wirkens im Hochbauamt um eine Vielzahl stadtbildprägender Schulbauten bereichert hat, darunter jene an der Bismarckstraße (1904), an der Sperberstraße und am Bielingplatz (beide 1914). Konrad Sorg, nachmals vor allem im sozialen Wohnungs- und Siedlungsbau tätig, stand ihm als Assistent zur Seite.
Von außen wie von innen gab sich der Neubau in den malerischen Formen des späten Jugendstils, dessen Baumassen funktional und asymmetrisch gruppiert waren. Scharf abgegrenzte Blend- und Schmuckfelder, vorspringende Fassadenteile und eine vielfach verspringende Dachlandschaft mit einem von Weitem sichtbaren Dachreiter, der den Abzug der Lüftungsanlage und die Schuluhren enthielt, belebten den Außenbau. Mit der neuen Handelsschule hatten die Nürnberger Wirtschaftsschülerinnen eine neue, moderne Schule und die Gärten bei Wöhrd ein neues Wahrzeichen gewonnen.
Ähnlich wie an der Schule am Bielingplatz, deren Bau etwa zeitgleich begann, wurden die Außenmauern aus Ziegeln gefügt und mit Strukturputz versehen. Nur die Sockelzone, Gliederungsteile der Fassaden und Reliefs bestanden aus Nürnberger Sandstein und unterfränkischem Muschelkalk. Der bekannte Nürnberger Bildhauer Philipp Kittler steuerte die Entwürfe für den Bauschmuck bei, den die Meister Josef Winter und Josef Staudinger ausführten. Die fantastischen Gestalten an den Fassaden und den Schulfluren atmeten den Geist des Jugendstils mit seiner Vorliebe für das Märchenhafte, Geheimnisvolle und Bizarre: An der Nunnenbeckstraße stützten zwei geflügelte Markuslöwen den Bogen des Hauptportals, in den Fensterbrüstungen darüber rahmten Putten, Meerwesen und Pferde eine Waage, einen Anker und den von zwei Schlangen umwundenen und mit Flügeln versehenen Stab des griechischen Gottes Hermes als Sinnbilder für den Handel.
Wenn auch das Schulhaus irreparabel war, die Institution der Handelsschule lebte fort – nun unter der Bezeichnung „Wirtschaftsschule“ bzw. „Städtische Berufsschule 12“, die nun sowohl Schülerinnen als auch Schülern offensteht. 1961 bis 1965 entstand eine neue Gebäudegruppe in den klaren Formen der Nachkriegszeit. Wer heute um die Schule herumspaziert, findet nur noch wenige Spuren der Zeit vor 1943. Gäbe es das Haus Georg-Strobel-Straße 23 mit seiner spätklassizistischen Fassade nicht, man wähnte sich beinahe in einer Neubausiedlung der 1950er und 1960er Jahre. So steht die Berufsschule und ihr direktes Umfeld für die wohl drastischste Art und Weise des Wandels einer Stadt: Wo der Krieg alles vernichtet, muss alles neu entstehen. Und was die Aufbaugeneration geschaffen hat, ist heute auch schon wieder Geschichte.
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